Ich kam von einer dreitägigen Visionssuche zurück, als ich von dem entsetzlichen Mord an George Floyd erfuhr. Stoppt diesen Wahnsinn, schrie es in mir voller Empörung sofort auf! Etwas in mir kann und will es nicht fassen. Etwas ist sprachlos! Jetzt aber endlich, nach Tagen – endlich konnten die Tränen fließen über das, was da geschehen ist, was da täglich passiert, in so vielen Ländern weltweit, an öffentlichen Plätzen, aber auch in verborgenen Kammern, weniger offensichtlich vielleicht, aber nicht weniger brutal.
Hier wurde es so deutlich, für die ganze Welt wahrnehmbar in einem Film festgehalten, dass wir es alle sehen mussten. Niemand mehr kann die Augen verschließen, niemand mehr kann sagen, wir hätten von all dem nichts gewusst: Es ist die Wahrheit. Dieses oder etwas Ähnliches geschieht täglich unzählige Male. Was wir hier als Einzelfall vor uns sehen, steht stellvertretend für ein ganzes System, wo andersfarbige (oder andersgläubige) Menschen diskriminiert, unterdrückt und umgebracht werden.
Es fließen die Tränen in tiefem Mitgefühl für George Floyd und seine Angehörige. Endlich, endlich, es fühlt sich an, als dürfe das Wasser endlich wieder fließen, das so lange hinter einer Staumauer zurückgehalten wurde.
Ich höre ihn noch röcheln: „Mama, Mama, ich kann nicht atmen, hilf mir“, während die Knie des Täters, Derek Chauvin, fest auf seinen Hals drücken. Völlig kaltblütig genießt der weiße Polizist seine Macht. Er hat es gelernt zu hassen, er schaut zu wie die letzten Atemzüge aus seinem Opfer heraus gehen und wie er stirbt. Das, was er nicht durch Liebe gewinnen konnte, das holt er sich jetzt durch den Hass.
Nein – das darf nicht geschehen, mit keinem Menschen und keinem Wesen überhaupt, das darf nicht geschehen!
Jetzt weitet sich mein Mitgefühl auch auf den Täter aus, und ich sehe die vielen Polizisten, die sich mit den Demonstranten solidarisieren und die Befehle zu weiterer Gewalt verweigern. Sie beugen öffentlich ihre Knie, sie bitten um Vergebung. ich sehe mit den inneren Augen den Polizisten Derek Chauvin, den Täter. Ich erlaube das Bild, wie sich plötzlich sein Herz öffnet und er zu einem Menschen wird, zu einem Menschen, der lieben möchte. Ich sehe ihn durchflutet von Tränen der Erkenntnis. Das, was da so gehasst hat durch ihn, das will plötzlich lieben. Er möchte sein Opfer wieder zum Leben erwecken. „Vergib mir, vergib mir,“ er möchte ihn umarmen – es weint und weint aus ihm heraus.
Es weint in mir, und ich sehe es durch ihn weinen im Namen unzähliger Soldaten, Polizisten, Machthabern, Tätern, die alle falschen Befehlen gehorcht haben, die schon als Kind verlernen mussten, liebender Mensch unter Menschen zu sein.
Jetzt erkennt er, dass er falschen Befehlen gehorcht hat. Er erkennt, dass er das, was er seinem Opfer angetan hat, auch sich selbst angetan hat.
Aus ihm ruft es genauso, wie aus seinem Opfer: „Mama, Mama!“ Es ruft nach Heimat, nach Liebe, nach Vertrauen und einer Religion, an die man glauben kann. Er erkennt, dass seine Tat die Folge eines Systems und einer Mentalität ist, das ihn zu Hass und Feindschaft erzogen hat.
Ich sehe ihn aufstehen, zusammen mit unzähligen Genossen, gemeinsam um Vergebung bittend.
Ein neuer Glaube steht in ihnen auf. Ein Glaube daran, dass ein Leben in Liebe und Anteilnahme möglich ist. Sie erkennen den Wahnsinn, wie sie seit Jahrhunderten einem rassistischen Erziehungssystem gefolgt sind, wie sie darauf getrimmt wurden, Feinde zu haben und in Feindschaft zu denken. Er sieht sein verstorbenes Opfer vor sich und mit ihm Millionen von ermordeten und unterdrückten Indigenen, Schwarzen, Farbigen und Minderheiten aller Art.
In ihm ruft die Stimme: „Nicht zu hassen, zu lieben sind wir gekommen.“ Er sieht ein Amerika vor sich, das sich seiner schlimmen Vergangenheit bewusst wird und dessen weiße Bewohner nun alles dafür tun, die Wunden der Vergangenheit zu heilen.
Sie stehen auf für ein neues System, in dem Wahrheit, Liebe und gegenseitige Anteilnahme wieder eine Chance haben, ein Leben in Kooperation mit aller Kreatur.
„Standing Rock“ ist für viele Menschen zum Inbegriff eines weltweiten Widerstandes in diesem Sinne geworden. Er spiegelt die ungleiche Auseinandersetzung zwischen den ursprünglichen Bewohnern dieses Landes und einem Staat, der sich durch Völkermord und Siedlerkolonialismus auf ihrem Land bilden konnte. So wie auf dem großen Widerstandscamp der indigenen Bevölkerung in Nord-Dakota, wo mehr als 2000 Veteranen sich im Dezember 2016 öffentlich vor den Ureinwohnern dieses Landes entschuldigt haben, so geschieht es auch jetzt. Sie sinken auf die Knie und sagen: Wir bitten aufrichtig um Vergebung, wir möchten ein neues Leben beginnen. Wir steigen aus den Systemen der Gewalt aus.
Sie spüren, wie ein mächtiger Wärmestrom ihre Herzen erreicht. Es ist als würden sich alle ehemaligen Opfer ihnen zuwenden und mit ihnen eine Menschenkette der Solidarität bilden, die um den ganzen Globus reicht. Die Zeit ist jetzt gekommen. Jetzt können wir wieder gut machen, was wir verfehlt haben, an Menschen, Tieren, dieser Erde und der gesamten Kreatur.
Möge George Floyd nicht umsonst gestorben sein. Möge dieser brutale Mord das Herz der Menschheit öffnen und verändern. Möge er uns allen, wo immer wir leben, den Mut geben, aufzustehen für ein Leben, in dem es keinen Rassismus mehr geben kann, wo sich patriarchale Muster von Herrschaft und Unterdrückung und alle anderen alten Konditionierungen verwandeln in eine neue Kraft des Zusammenlebens in Vertrauen, gegenseitiger Unterstützung, Liebe und Solidarität.
Dank an alle, die ihre Stimme erheben und ihr Leben einsetzen für eine humane Wahrheit und Gerechtigkeit, oft unter hohem Risiko und größter Gefahr.
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Anmerkung des Verlags: Wir möchten hier auch auf die offizielle Stellungnahme der Tamera Gemeinschaft zu George Floyd verweisen: Solidarität mit Black Lives Matter
Liebe Sabine, ich bin dir so dankbar für diesen Artikel! Es ist, wie wenn ein Zyklus rund wird: Nach dem schreckhaften Einatmen nach dem brutalen Mord an George Floyd, dem Anhalten der Energie, der hochkommenden Angst vor Gewalt und „dem Bösen“ in der Zukunft für unsere Welt und uns in ihr, der Fassungslosigkeit, dem Versuch das alles einzuordnen, langsam ansatzweise nachzufühlen, was es bedeutet… – kommt hier das Ausatmen, die Zuwendung in der gleichen liebevollen Haltung dem Leben gegenüber, egal ob es sich in einem Opfer oder dem Täter zeigt, im wieder-leer-Werden von Verurteilungen, die nur neue Trennung hervorrufen, im Abgeben an etwas, das größer ist als ich, an etwas Größeres, an das Leben, an die Liebe, an das Vertrauen, dass jetzt etwas wirkt, das zur Heilung beiträgt.
Die Vollendung des Zyklus gestattet mir das erneute mich-Auffüllen und wieder-Leerwerden, das Kraft-Schöpfen und bereit-Werden, etwas Neues in mein Leben zu lassen, meine Weltsicht zu vertiefen und, ja, dann auch zu handeln.
Ich erinnere mich an eine Erzählung, ich glaube von Marshall Rosenberg, der berichtet, wie in einem indigenen Volk nach einer das Dorf schädigenden Tat, der/die TäterIn in die Mitte genommen wird, dort erfährt der Mensch aber nicht nur, was seine Handlung für Konsequenzen für andere hat, sondern die Gemeinschaft erinnert ihn auch daran, womit er beigetragen hat zum Wohlbefinden und zur Verbindung der Gemeinschaft in der Vergangenheit.
Jetzt kann die Schockstarre aufweichen und Trauer wird möglich und dann sehen wir, was sich zeigen will und was unser Beitrag sein kann. Danke!!
Liebe Sabine!
Deine Worte sind so befreiend. Ich habe mir das schockierende Video nicht angeschaut und bin die letzten Tage nicht in diesen Schmerz gegangen. Und als ich gestern deinen Text gelesen habe, habe ich beobachtet, wie meine Staumauer Risse bekam. Spät am Abend in den Armen meines Mannes begannen auch meine Tränen zu fließen, die Trauer sprengte fast meine Brust. Mit deinem wundervoll heilsamen Bild von Opfer und Täter vereint und dem tiefen Mitgefühl für beide Seiten konnte ich mein Herz ganz weit öffnen. Vor vielen Wochen zu Beginn der Corona-Krise hatte ich eine Vision von einer weltweiten Friedensbewegung, die Menschenketten von Nord nach Süd und von Ost nach West bildet und die Meeresbewohner bittet, diese Energie durch die Meere hindurch zu verbinden. Diese Vision war stark, da ich dieses verbindende Gefühl der offenen Herzen schon einmal als zehnjähriges Mädchen in der Menschenkette 1983 zwischen Stuttgart und Ulm erleben durfte. Da habe ich mich beim Lesen deiner Worte sehr gefreut, das Bild der Menschenkette wiederzufinden. Doch gestern habe ich in den Tränen noch etwas anderes gesehen. Ich habe alle Menschen auf der Erde weinen sehen, die Staudämme sind gebrochen. Wir haben alle geweint, lange sehr lange und die Tränen sind zu Bächen und Flüssen geworden, haben den trockenen und ausgedörrten Boden getränkt und sind in die Meere geflossen. Danach haben alle Menschen wie befreit begonnen zu tanzen, zu singen, zu lachen und gemeinsam zu feiern, ein Fest der Liebe und der offenen Herzen. Ich war erstaunt, dass gefühlt die ganze Welt Platz hatte in meinem Herzen. Ich glaube, es ist an der Zeit, ganz groß und global zu denken und zu fühlen. Ich weiß aus eurem Wirken, dass ihr das schon sehr lange tut. Aber dass ich das auch selbst tun kann, ist mir erst in den letzten Wochen und ganz besonders gestern Nacht bewusst geworden.
Danke, danke, danke für deine und eure Arbeit, die so wegbereitend und heilsam ist,
Tina