In der Tamera-Gemeinschaft gibt es die Einrichtung des sogenannten SD-Forums. SD steht für Selbstdarstellung. Ein Teilnehmer geht in die Mitte der Gruppe und zeigt, was er oder sie fühlt und denkt. Es gibt keine Verurteilung. Manchmal geschieht es, dass jemand etwas Überraschendes vorbringt, wie zum Beispiel jener bärenstarke Typ, auf den alle projizierten, der auf einmal sagte: „Ich hatte immer Angst vor Frauen und habe sie heute noch. Ich simuliere eine Potenz, die ich nicht habe. Ich bitte um Hilfe.“ Dies sind Augenblicke der Wahrheit. Auf einmal verändert sich die Energie im Raum. Die ganze Gruppe ist plötzlich aufmerksam, atmet anders, die inneren Privatdialoge hören auf, die gemeinsame Aufmerksamkeit ist auf ein Thema gerichtet, das alle angeht. Es ist die Intimität der Wahrheit, die uns jetzt miteinander verbindet. Je mehr solcher Erfahrungen in einer Gemeinschaft möglich sind, desto sicherer findet sie die Ethik einer tiefen menschlichen Solidarität.
Dass unser Projekt nach vier Jahrzehnten noch in voller Lebendigkeit existiert, hängt auch damit zusammen, dass wir von Anfang an derartige Wahrheitsräume eingerichtet haben.
Wir mussten viel lernen, um dazu fähig zu werden. Als wir in der ersten Kommune in Leuterstal (Süddeutschland) vor 35 Jahren eine „Woche der Wahrheit“ veranstalteten, schlugen sich die vierzehn Teilnehmer die Wahrheiten so um die Ohren, dass sich die Tage mit Wut und Angst füllten. Sechs Teilnehmer haben dann die Gruppe verlassen. Da war bei dem Begriff der Wahrheit etwas gründlich missverstanden worden. Die Teilnehmer hatten die Tage benutzt, um ihren angestauten Frustrationen und Aggressionen freien Lauf zu lassen und zu sagen, was sie voneinander dachten. Aber zu sagen, was man voneinander denkt, ist noch keine innere Wahrheit. Wahrheit entsteht, wenn wir selbst wahr werden und uns der Masken entkleiden, mit denen wir sonst unser Image voreinander aufbauen. Wahrheit ist der authentische Austritt aus den alten Rollenmustern und die Bereitschaft, die anderen in die eigene Seele schauen zu lassen. Dadurch entsteht eine menschliche Betroffenheit und Anteilnahme, in der alle alten Reflexe von Verurteilung und Ablehnung erlöschen. Wahrheit erzeugt Akzeptanz und Liebe. Gesehen werden heißt geliebt werden. Das gilt auch für unsere Einrichtung der Tiefengespräche in der Gruppe. Sobald sich der Kanal zwischen dem Leiter und der befragten Person öffnet, wird die Person in ihrer reinen Gestalt – fast könnte man sagen: in ihrer Christusnatur – sichtbar. Dann öffnet sich das Tor der Liebe, es entsteht vollkommene Akzeptanz. Es ist eine Intimität nicht nur auf emotioneller, sondern auch auf spiritueller Ebene, eine tiefe Intimität, aus demselben Stoff zu sein.
Diese Intimität der Wahrheit gibt es auch in der Sexualität, in der erotischen und seelischen Struktur einer echten Liebesbeziehung, sobald es den beiden Partnern gelungen ist, aus dem üblichen Netzwerk von inneren Kommentaren und Projektionen auszusteigen und sich gegenseitig in ihrer ursprünglichen Schönheit zu erkennen. Die Wahrheit ist das Licht der Liebe. Das Schöne, das wir lieben, ist der Glanz der Wahrheit. Und Liebe, das hat uns schon Sigmund Freud gesagt, ist das Verhältnis zum Schönen.
Aus dem Buch: Und sie erkannten sich. Das Ende der sexuellen Gewalt
toll, deine briefe, liebe leila. u.a. fand ich unetr “autoren” madjana keusen. wohnt sie in ihrem haus neben alice, dem nöh-haus ? ich wollte ihr gerne spontan meilen, habe natürlich keine adresse. bei meinem 1. besuch in tamera mit renato domiczek sind wir mit ihr in kontakt gekommen und durften sogar ihr häuschen aufsuchen….richte liebe grüsse aus, von mir.
heute feiert esther ihren 84. geburtstag!
dir nur gutes u e feschti umarmig, salam-shalom, chlous.
Liebe Leila, lieber Dieter,
vielen Dank für Eure Anregungen zur Wahrheit des Herzens. Es gibt ja so viele Wahrheiten und zur Wahrheit, die wir letztendlich alle anstreben, werden wir erst kommen, wenn wir über die Grenzen des Dualismus, dem Kampf um Richtig und Falsch, Gut und Böse hinausgewachsen sind. Solange wir von den Widersprüchen und Wirren unserer Zeit getrieben werden, sollten wir uns in unserer Verletzlichkeit schützen können. Es ist aber ein Segen, wenn wir unser Herz in einem vertrauensvollen Umfeld öffnen können.
Wir sind täglich herausgefordert, mit schmerzlichen Erfahrungen aus unserer Kindheit wie Ungerechtigkeiten und Ohnmacht umzugehen. Wut, Haß und Gewalt sind Affekte, die sich schnell
in Projektionen auf andere Menschen entladen: “Du hast dies und
jenes gemacht und bist schuld, daß es mir schlecht geht!” Meine Frau und ich sind sehr bald in unserer Beziehung den Weg gegangen, diese negativen Du-Botschaften zu vermeiden. Schuldzuweisungen belasten stark jede Beziehung und zerstören sie. Der heilsame Weg fragt: “Was haben die Emotionen mit mir selbst zu tun?” In der Tiefe des Herzens ist das oft ein schmerz-hafter Prozeß, bei dem viele Tränen fließen und der in der Regel therapeutische Begleitung braucht.
Bisher habe ich Tamera noch nicht persönlich kennengelernt. Aus der Ferne nehme ich jedoch eine Lebensgemeinschaft wahr, die für viele Menschen die lebendige Vision von Frieden und liebender Verbundenheit praktiziert.
Seid herzliche gegrüßt
Walter Moritz
Liebe Leila,
ich denke auch, dass es eine Wahrheit gibt, die jenseits unserer intellektuellen Wahrnehmung liegt. Sie ist jenseits aller Vereinbarung.
Sie ist das Erkennen. Wie das bekannte Koan “Das Klatschen der einen Hand”
Mit unseren beschränkten Sinnen können wir unsere Welt nicht wirklich erfassen. Trotzdem glauben wir, dass das, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen auch wahr ist, Wirklichkeit ist, der Wahrheit entspricht. Wir glauben an diese Wahrheit. Das ist ein schwerwiegender Irrtum.
Desweiteren glauben wir, dass das, was wir jemals gelernt haben über die Welt, d.h. was wir in unserem Kopf an Erfahrungen und Wissen usw. gespeichert haben und auch das, was die Wissenschaftler an immer neuen Erkenntnissen veröffentlichen, der Wahrheit entspräche. Das ist ein noch grösserer Irrtum.
Auch das, was wir besitzen könnte uns Sicherheit bieten, glauben wir.
Ja, natürlich stimmt das alles, was ich beschrieben habe in der Cyberwelt der Vereinbarungen, in der Welt, in der 1 + 1 = 2 ist, in der Welt in der das, was meine Sinne als wahr erkennen, der Wahrheit entspricht, was ich denke oder fühle wahr ist und in der Welt des Geldes.
Was ist aber die Wahrheit?
Ich denke, wir Menschen können uns ihr annähern. Gemeinsam. Indem wir versuchen, Tatsachen als Tatsachen zu sehen und unsere Wahrnehmungen, Gefühle und Intellektuelle Leistungen, als das, was sie sind. Das wird ein langsamer Prozess des gegenseitigen Erkennens in der dann alle Grenzen fallen und die Herzen zusammenkommen. In wenigen Generationen ist das möglich.
Das ist einer der Gründe, weshalb ich überzeugt bin, dass die Zukunft der Menschheit im Zusammenleben in der Gemeinschaft liegt.
Lieben Gruss Flo